Einen Kupferkapillare, die durchs Verquetschen verschlossen wurde.

Kapillare und Ventile zur Druckentspannung von Isolierglas

ift-Forschungsprojekt attestiert Umsetzbarkeit

Lesezeit: 5 Minuten

Zunehmende energetische Ansprüche an Fenster sowie der Wunsch, Bauteile wie z. B. Sonnenschutzsysteme in den Scheibenzwischenraum zu integrieren, erfordern Mehr-scheiben-Isoliergläser (MIG) mit größeren Scheibenzwischenräumen. Die Physik setzt je-doch enge Grenzen, denn ein größerer Scheibenzwischenraum führt zu höheren Klimabelastungen der Scheiben und des Randverbundes. In einem gerade abgeschlossenen Forschungsprojekt demonstriert das ift Rosenheim, dass Kapillare geeignet sind, eine Druckentspannung umzusetzen, allerdings sind Ventile Kandidaten mit großem Potenzial.

Motivation und Projektziel

Konventionelles Mehrscheiben-Isolierglas besteht aus mehreren planparallelen Glasscheiben, die über ein Randverbundsystem miteinander verbunden sind. Die entstehenden Scheibenzwischenräume (SZR) sind hermetisch abgeschlossen. Dies ist notwendig, um die Luftfeuchtigkeit in den SZR so gering wie möglich halten zu können und somit die Entstehung von Tauwasser sowie die Korrosion der aufgedampften metallischen low-e-Beschichtungen zu verhindern. Ein Entweichen des Füllgases soll vermieden werden.

Dieses Konstruktionsprinzip hat auch Nachteile: Es verhindert einen Druckausgleich zwischen dem SZR und der umgebenden Atmosphäre. Ändern sich der Luftdruck oder die Temperatur im SZR, so sind Klimalasten auf Scheiben und Randverbund die Folge. Außerdem können durch Einbauchen der Scheiben in den SZR integrierte bewegliche Systeme, wie z. B. Sonnenschutzsysteme, eingeklemmt und beschädigt werden.

Je größer der Scheibenzwischenraum, desto größer sind die Klimalasten auf Glas und Randverbund. Damit ist die Bautiefe von konventionellem Mehrscheiben-Isolierglas konstruktionsbedingt beschränkt. Ein Druckausgleich zwischen dem SZR und der Umgebung erbrächte folgende Vorteile:

  • Leichtere und vielfältigere Integration von Bauteilen jeglicher Art in den SZR (z. B. Sonnenschutzsysteme),
  • Realisierung von Isolierglas mit mehr als drei Scheiben ohne wesentliche Beschränkung der Scheibenabstände,
  • Größere Bautiefe und somit Verringerung der geometrischen Wärmebrücke am Baukörperanschluss,
  • Reduzierung des Wärmedurchgangskoeffizienten im Vergleich zu konventionellem Zwei- und Dreifachglas,
  • Verbesserung der Luftschalldämmung (diese steigt mit zunehmendem SZR),

Mögliche Reduzierung der Glasdicken, da verminderte Klimalasten auf die Scheiben einwirken.

Zeigt das Verhalten von Isolierglas bei Klimalast. Dort wird deutlich, dass das schmale SZR sich nicht viel, das breite SZR etwas mehr und zwei schmale SZR am meisten verbiegt.
Bild 1: Verhalten von Isolierglas bei Klimalast;
ein größerer effektiver SZR führt zu größeren Durchbiegungen und höheren Spannungen

Eine Untergruppe der druckentspannten Systeme sind Isoliergläser, bei denen nur eine einmalige Druckanpassung auf die Ortshöhe des Einbauortes vorgenommen werden muss. Dies ist notwendig bei konventionellen MIG, wenn der Höhenunterschied zwischen Herstellungs- und Einbauort bestimmte, von Aufbau und Format des Isolierglases abhängige Grenzwerte überschreitet. Druckangepasste Isoliergläser sollen die Anforderungen der Produktnorm EN 1279 erfüllen, insbesondere auch hinsichtlich der Dauerhaftigkeit.

Dieses Forschungsvorhaben hatte das Ziel, zu untersuchen, ob und durch welche technischen Maßnahmen permanent druckentspanntes sowie (einmalig) druckangepasstes Isolierglas für eine breite Anwendung im Bauwesen umgesetzt werden können. Fragen zur Dauerhaftigkeit standen immer auch im Vordergrund.

Untersuchungen

Das Schaubild zeigt einen Ausschnitt auf einem Rechenmodell aus den Werten von der Klimakammer
Bild 2: Ausschnitt aus Rechenmodell

Untersuchungen zur dauerhaften Druckentspannung

Es wurde ein Rechenmodell entwickelt, das das Verhalten eines dauerhaft druckentspannten MIG hinsichtlich des Grades der Druckentspannung und hinsichtlich der Feuchteaufnahme simuliert. Sowohl Kapillare als auch Ventile sind als Bauelemente zur Druck-entspannung rechnerisch abgebildet. Es kann mit realen klimatischen Messdaten gearbeitet werden.

Probekörpermit Wegaufnehmer in der Klimakammer
Bild 3: MIG-Probekörper mit Wegaufnehmern in der Klimakammer

Durch experimentelle Untersuchungen in einer Klimakammer und in Freibewitterungen wurde das Rechenmodell auf seine Gültigkeit hin geprüft und die Funktionsfähigkeit von Kapillaren zur dauerhaften Druckentspannung in baupraxisnahen Tests demonstriert. Ventile standen im Rahmen dieses Forschungsvorhabens nicht für experimentelle Untersuchungen zur Verfügung.

Untersuchungen zur einmaligen Druckanpassung

Folgende Fragestellungen wurden rechnerisch und experimentell adressiert:

  • Ab welcher Ortshöhendifferenz zwischen Herstell- und Einbauort ist eine Druckanpassung notwendig?
  • Wie lange dauert der Druckausgleich über eine Kapillare?
  • Lässt sich der Einbau von Metallkapillaren und Kunststoffschläuchen in den Herstellungsprozess von Isolierglas integrieren, und ist die Handhabung dieser Druckanpassungssysteme baustellengerecht?
  • Ist die Dauerhaftigkeit gemäß EN 1279 nach dem Öffnen und Wiederverschließen des SZR gewährleistet?

 

Einen Kupferkapillare, die durchs Verquetschen verschlossen wurde.
Bild 4: Durch Verquetschen verschlossene Kupferkapillare

Ergebnisse

Dauerhafte Druckentspannung

Kapillare sind geeignet, eine dauerhafte Druckentspannung von Mehrscheiben-Isolierglä­sern zu bewirken. Gleichzeitig begrenzen Kapillare die Feuchteaufnahme eines MIG erheblich, so dass akzeptable Nutzungsdauern (> 20 Jahre) realistisch erscheinen. Der Koppeleffekt, d. h. die mittragende Wirkung der inneren Scheibe bei Windlasten, kann erhalten bleiben. Das Kapillarmaterial (Edelstahl oder FEP) hat keinen Einfluss auf die Feuchteaufnahme. Mit Hilfe des Rechenmodells müssen die Kapillardimensionen (Innendurchmesser, Länge) an das Format und den Aufbau des MIG angepasst gewählt werden.

Modellrechnungen zeigten, dass mit Ventilen bei gleichem Grad der Druckentspannung (wie mit Kapillaren) wesentlich längere Nutzungsdauern erreicht werden können (> 40 Jahre). Das ift Rosenheim ist sehr interessiert daran, diese Thematik zusammen mit den einschlägigen Branchen der Industrie weiterzuverfolgen.

Einmalige Druckanpassung über Kapillare

Eine einmalige Druckanpassung über eine Kapillare ist prinzipiell möglich. Idealerweise erfolgt die Druckanpassung bereits während der Auf- bzw. Abfahrt auf/von einem Berg. Es ergeben sich jedoch Einschränkungen, die in erster Linie aus der technischen Umsetzbarkeit resultieren. Die automatisierte Fertigung (insbesondere Versiegelung) wird u. U. durch eine Metallkapillare im Randverbund behindert oder sogar unmöglich gemacht. Das gasdichte Verschließen von Metallkapillaren hat sich als schwierig erwiesen. Die Kapillare muss grundsätzlich als potenzielle Fehlstelle im Randverbund betrachtet werden. Der Durchbruch durch den Abstandhalterrücken und die Grenzflächen zum Dichtstoff können einen Pfad für entweichendes Gas und eindringende Feuchtigkeit bilden. Die Anforderungen an die Fertigungsqualität müssen bei einem MIG mit Metallkapillare noch höher angesetzt werden als bei einem konventionellen MIG. Kunststoffkapillare scheiden als Alternative aus. Sie lassen sich zwar gut verarbeiten, sind aber nicht gasdicht. Die Anforderungen der EN 1279-3 können nicht erfüllt werden.

Danksagung

Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumordnung gefördert (Aktenzeichen: SWD-10.08.18.7-12.12).

Die Verantwortung für den Inhalt des Berichts liegt bei den Autoren.

Das Forschungsprojekt wurde in beratender Funktion durch eine projektbegleitende Arbeitsgruppe betreut. Den Mitgliedern des Beratergremiums Prof. Dr. Franz Feldmeier (Hochschule Rosenheim), Dr. Roland Rossi (Glas Facade Engineering (GFE), Prof. Dr. Armin Schwab (Ingenieur- u. Sachverständigenbüro Schwab) und Dr. Michael Brüggemann (Forschungsinitiative Zukunft Bau) gilt besonderer Dank.
Besonderer Dank gebührt auch folgenden Industriepartnern, die das gesamte Projekt sowohl ideell als auch finanziell unterstützten und somit zum Gelingen beitrugen:

Wir bedanken uns auch bei der Fa. RAICO Bautechnik GmbH, Pfaffenhausen, für die unentgeltliche Bereitstellung einer Fassadenaufsatzkonstruktion vom Typ THERM+, H‑V Standard. Ferner hat uns die Fa. FEINROHREN SPA, Passirano (Brescia), Kupfer­kapillare kostenlos zur Verfügung gestellt.

Der ausführliche Forschungsbericht „Untersuchungen zur Umsetzbarkeit von druckentspanntem Isolierglas“ kann im ift-Literaturshop (www.ift-rosenheim.de/shop) bezogen werden. Für ift-Mitglieder ist der Forschungsbericht im Forschungsarchiv des geschlossenen ift-Mitgliederbereichs kostenlos downloadbar.

Logo der Firma SANCO, welche durch die Firmen Sanco Beratung Glas Trösch GmbH, Nördlingen und Glas Müller Vetri, Bozen vertreten wurde.
SANCO Isolierglasgruppe, vertreten durch:
– Sanco Beratung Glas Trösch GmbH, Nördlingen
– Glas Müller Vetri, Bozen
Logo der Firma Finstral AG, Unterinn
Finstral AG, Unterinn

Dr. Ansgar Rose

ift Rosenheim

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