„Sie hält und hält und hält…“ – Structural Glazing Fassade im Dauertest

Was sich daraus für Fenster und Fassaden ableiten lässt

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Als das ift Rosenheim 1985 ein neues Institutsgebäude errichtete wurde der Erker an der Südwestecke des Bürotrakts (Bild 1) über drei Etagen in einer „Structural Sealant Glazing (SSG)“ Konstruktion ausgeführt – damals in Deutschland eine absolute Neuerung, da das Kleben bis zu diesem Zeitpunkt vor allem in den USA mit Einfachglas bekannt war. Und nun in Deutschland!

Foto des alten Erkers der ift-Fassade
Bild 1: Erker der ift-Fassade vor der Sanierung im Jahre 2010

Die verantwortliche Bauaufsicht war verständlicherweise sehr skeptisch. Auch deshalb wurde die Herstellung der Klebung akribisch dokumentiert und über die nachfolgenden 5 Jahre mit regelmäßigen Versuchen und über 15 Jahre mit Berichten an die Bauaufsicht begleitet.

Diese Skepsis war ein Glücksfall, da jetzt Basisdaten vorhanden sind, die im vergangenen Jahr als Referenz für die wissenschaftliche Untersuchung dieser Fassade dienten. Die Fassade wurde aufgrund der notwendigen energetischen Sanierung ausgebaut und war zu diesem Zeitpunkt ca. 23 Jahre dem Rosenheimer Klima ausgesetzt.

Was kann die Klebung wirklich?

Welche Festigkeiten hat die Klebung noch im Vergleich zum damals festgestellten Neuzustand?

Das seit 1998 relevante Regelwerk für SSG-Systeme ist die ETAG 002-1, „Leitlinie für die europäisch technische Zulassung von geklebten Glaskonstruktionen [1]“, in der eine erwartete Nutzungsdauer von 25 Jahren für geklebte Einsatzelemente gefordert wird. Diese Anforderung soll von einer Klebung dann erfüllt werden, wenn sie nach den im Regelwerk vorgesehenen Alterungsprüfungen noch 75 % der Anfangsfestigkeit vorweisen kann.

Zwei Fotos vom alten und neuen Probekörper
Bild 2: Probekörper 2012 (links) und 1986 bis 1991 (rechts)
Grafik eines Probekörpers
Bild 2: Probekörper

Somit wurde aus den ausgebauten und zwei Jahre zwischengelagerten Fassadenelementen im Somit wurden aus den ausgebauten und zwei Jahre zwischengelagerten Fassadenelementen im Rahmen einer Bachelorarbeit [2] Proben entnommen, die den Referenzproben im Neuzustand sowie den Proben der folgenden fünf Jahre entsprachen, die aus parallel In situ-gealterten Proben entstammte. Die Ergebnisse sind vergleichbar, da die Herstellung, die Probengeometrie (Bild 2) und das Entnahmeverfahren identisch waren.

Die Veränderung der Festigkeit im Zugversuch über die Zeit zeigt Bild 3. Dabei ist zu beachten, dass die Proben im Neuzustand nur kurzzeitig einer Temperaturbelastung von ‑20 °C, + 23 °C bzw. + 60 °C ausgesetzt waren, während den „Realproben“ 23 Jahre überlagerte und kumulierte Klimabelastungen „in den Knochen steckten“. Diese Proben wurden zusätzlich einer Kurzzeitklimalast unterzogen, um die fehlenden 2 Jahre zu simulieren und so eine direkte Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Erfüllt die Klebung nach 23 Jahren im oberbayerischen Klima noch die Kriterien der ETAG 002?

Berücksichtigt man nun für die reale Alterung die Kriterien der ETAG 002-1 für Klebungen, so kommt man zu der Erkenntnis, dass die Zugfestigkeit über die Zeitdauer von insgesamt 25 Jahren (23 Jahre Exposition und 2 Jahren Nachlagerung) bei Prüfung bei 23 °C noch bei 79 % des Anfangswertes liegt.

Das Diagramm zeigt die Veränderung der Werte der Zugspannung vom Neuzustand bis zu 23 Jahren Alterung. Die Achsen sind wie folgt beschriftet: x-Achse - Zeitraum Jahre, y-Achse - Spannung N/mm². Nähere Informationen zur Darstellung erhalten Sie auf Anfrage unter +49 8031 261-2150.
Bild 3: Veränderung der Werte der Zugspannung vom Neuzustand bis zu 23 Jahren Alterung (Achtung: x-Achse nicht maßstäblich!)

Um abschätzen zu können, welchen klimatischen Einflüssen die Fassade in der relevanten Zeitspanne unterlag, wurden Erhebungen mit Hilfe des deutschen Wetterdienstes durchgeführt. Temperaturspannen von –24°C bis +35°C sowie eine kumulierte UV-Einstrahlung pro Jahr von ca. 1100 W/m² (Globalstrahlung) wurden dabei ermittelt.

Die Einwirkungen und Anforderungen der ETAG 002-1 erscheinen als Regelwerk somit vernünftig und von dem geprüften System auch in der realen Anwendung erfüllbar zu sein. Ein nach ETAG 002-1 geprüftes System kann die geforderten 25 Jahre in der Fassade erfüllen, auch unter dem Aspekt: „Ohne Gürtel und Hosenträger“ also ohne Eigenlastabtragung und ohne mechanische Sicherung!

Was bedeuten die Ergebnisse für die praktische Anwendung?

Generell kann man sagen, dass die Ergebnisse die Annahmen des technischen Regelwerkes bestätigen. Die Erfahrungen, auf denen die ETAG beruhte, stammten ja größtenteils aus den USA, wo SSGS sehr viel länger angewandt wird als in Europa. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass am ift Isolierglaseinheiten verklebt wurden, die als weitere Belastung für die Klebung die Einflüsse aus den Temperatur- und Luftdruckschwankungen aufnehmen mussten, die aus dem hermetisch abgeschlossenen Luftvolumen des Scheibenzwischenraums resultieren.

Geklebte Einsatzelemente

Für die klassische Anwendung von geklebten Einsatzelementen in der Fassade steht nun wichtiger Baustein zur Verfügung, der dazu beitragen kann, dass SSGS auch in Deutschland soviel Vertrauen gewinnt, dass von bauaufsichtlicher Seite die Forderung nach mechanischen Sicherungen in einer Einbauhöhe > 8 m überdacht wird. Es sind allerdings noch weitere Ergebnisse dieser Art notwendig, um eine statistische Absicherung der ermittelten Werte zu erhalten.

Geklebte Verglasung im Fensterflügel

Ein großer Teil der Klebung im Fensterflügel findet im Glasfalzgrund statt, vor allem im Bereich der Kunststoff-Fenster. Im Glasfalzgrund kommt einer dauerhaften Lastabtragung, die abhängig ist von einer guten Haftung des Klebstoffs zu den Substraten, bei weitem nicht diese Bedeutung zu, da es sich mehr um eine „Einspannung“ durch die dauerelastischen Materialien handelt als um eine lastübertragende Klebung. Für Klebungen auf den Positionen 1 oder 4/6 des Glases zum Überschlag des Fensterflügels – vielleicht noch ohne klassische Glashalteleiste – gilt ähnliches wie in Abschnitt 3.1. Allerdings ist zu beachten, dass im Fenster durch die Vielzahl der Substrate (PVC, Holz, Metall, …) und Klebematerialien (elastische und weniger elastische Klebstoffe, Klebebänder etc.) eine wesentlich größere Kombinationsvielfalt vorhanden und zu berücksichtigen ist.

Neue Klebesysteme

Für neue Klebesysteme im lastübertragenden Bereich wie z. B. Glas – Holz, Glas – GFK, die auch zur Aussteifung einer Konstruktion heran gezogen werden, sollte deshalb frühestmöglich auch ein begleitendes Monitoring geplant werden, um die notwendige Sicherheit und Datenbasis für eine mögliche bauaufsichtliche Freigabe zu erlangen.

Normen- und Literaturverzeichnis

  1. ETAG 002-1: 1998
    Leitlinie für die europäisch technische Zulassung von geklebten Glaskonstruktionen.
    Veröffentlichung im Bundesanzeiger Nr. 92a 20.05.1999
  2. Beständigkeit von SSGS – 
    Materialorientierte experimentelle Untersuchung und statistische Auswertung einer real gealterten ift-Fassade in Anlehnung an EOTA ETAG 002-1.
    N. Graf, 2012
  3. ift-Richtlinie VE-08/2
    Beurteilungsgrundlage für geklebte Verglasungssysteme.
    ift Rosenheim, Holzforschung Austria, Berner Fachhochschule Architektur, Holz und Bau; Rosenheim 9/2011
  4. ift-Richtlinie DI-01/1
    Verwendbarkeit von Dichtstoffen Teil 1 – Prüfung von Materialien in Kontakt mit dem Isolierglas-Randverbund.
    ift Rosenheim; Rosenheim 2/2008
  5. ift-Richtlinie DI-02/1
    Verwendbarkeit von Dichtstoffen, Teil 2 – Prüfung von Materialien in Kontakt mit der Kante von Verbund- und Verbundsicherheitsglas.
    ift Rosenheim; Rosenheim 3/2009
Portraitbild Karin Lieb

Karin Lieb

ift Rosenheim

Nach Abitur, Ausbildung im Schreinerhandwerk und Abschluss an der Hochschule Rosenheim als Diplomingenieur (FH) Bereich Holztechnik ist Karin Lieb seit 1989 im Geschäftsbereich Prüfung des ift Rosenheim tätig. Seit der Zeit beschäftigt sie sich mit Materialprüfung, was beim ift Rosenheim bedeutet, man befasst sich mit allen Einzelteilen, die in Bauteilen vorkommen können. Diese Tätigkeit hat sich im Lauf der Zeit aufgebaut von der Tätigkeit als Prüfingenieurin, über die Prüfstellenleitung bis ins Produktmanagement. Dort steht sie heute den Kunden für Anfragen aller Art zu den Dienstleistungen des ift Rosenheim zur Verfügung. Sie ist auch als Gutachterin für das ift Sachverständigenzentrum tätig.

Die Tätigkeiten waren immer begleitet durch technische Mitarbeit in nationalen und europäischen Normenausschüssen sowie Arbeitskreisen für verschiedene Verbände.